Authentisch und selbst gelesen: drei besondere Bücher als Lektüre abseits der Bestsellerlisten.
Als erstes sehe ich die kräftigen Farben: das tiefe Türkisblau des Buchumschlags, das warme Orangegelb des Autorinnenportraits der deutschen Ausgabe von Mariette Navarros Über die See, das dunkle Violett und das orangerot gezeichnete Fuchsfell auf mattem Nachtschwarz des deutschen Covers von Wandern bei Nacht, die blauen, gelben, grünen und rosaroten Graphic-Novel-Farbflächen des Hausmann-Covers. Im Inneren finden sich weitere grafische Gimmicks: schwarzweiße Holzschnitte bei John Lewis-Stempel, bläuliche Zeichnungen und Emojis bei Kolosowa. Nur Navarros Narrativ bleibt minimalistisch und verzichtet auf weitere Bilder und Farben.
Mariette Navarro: Über die See (Ultramarins)
Über der kühlen Tiefsee im Sonnenlicht einer grenzenlos scheinenden Weite sucht eine ruhelos reisende, bisher immer ruhig und rational handelnde Handelsschiffahrtskapitänin nach Sinn und Seele in der menschengemachten Maschinerie aus Stahl und Schweröl.
Die internationalen Buchausgaben von Über die See unterscheiden sich nicht nur vom Titel, sondern auch vom Cover. In der Englische Ausgabe, Ultramarine, zeigen zwei ganz unterschiedliche Bilder im Stil wissenschaftlicher Illustrationen reale und emotionale Tiefe sowie den Kontrast zwischen Kühle und Wärme, Loslassen und Kontrolle. Die französische Ausgabe ziert eine heiterere Grafik und der Originaltitel Ultramarins lässt sich auch als Wortspiel über „Ultra-Seeleute“ verstehen.
Fremde Welten und eigene Erfahrungen
Über die See entzieht sich am meisten meiner persönlichen Erfahrung. Eine ergebnislose Recherche nach anschaulichen Bildern zeigt umso deutlicher, wie fernab üblicher Klischees und Erlebnisse das Leben auf einem Frachtschiff sein muss. Über das Leben als Teilzeit-Hausmann im Homeoffice und die Diskrepanz von Vorurteilen und Kiez-Alltag weiß ich besser bescheid, und auch nächtliche Wege durch Wälder, Felder oder Parks könnte ich berichten: von Füchsen und Eichhörnchen, von Katzenjammer und der „Jazzmusik“ der Nachtigallen oder davon, dass ein Freund das unterirdische Gluckern eines Regenrückhaltebeckens für den leisen Schall einer geheimen Goa-Party hielt.
Wlada Kolosowa: Der Hausmann
Auf dem vermeintlichen festen Boden der Großstadt suchen Kreative derweil nach Inspiration und Karrierechancen, und wäre das Buch Der Hausmann nur wenig später geschrieben, müsste KI hier eine weitere Nebenrolle spielen, im literarischen Wimmelbild, das unser modernes Leben ironisch und liebevoll beschreibt und verspottet.
Heute habe ich die gute Laune
In seiner Mischung aus Roman, Chatverlauf und einer Graphic Novel von Raúl Soria mit seinen unterschiedlichen Schicksalen, Perspektiven und Vorurteilen ist Der Hausmann in jeder Hinsicht das bunteste und setzt sozusagen Akzente, wenn der neue Nachbar in seinen Tagebucheinträgen mit der deutschen Grammatik und Hipster-Idealen fremdelt.
Kolosowa, so heißt es, erzählt einfühlsam und nuanciert über Männlichkeit und Alltag, was aber leider oft ichbezogen, selbstmitleidig und klischeehaft klingt. Doch egal, ob dieses Buch semifiktional autobiografisch angehaucht oder frei erfunden ist, es hebt sich in so vieler Hinsicht kreativ vom Gewohnten ab, dass es eine Empfehlung verdient hat.
John Lewis-Stempel: Wandern bei Nacht (Nightwalking)
Die in Tagebuchform festgehaltenen, meist nächtlichen Naturerlebnisse im ländlichen England sind ein wenig Weltflucht, vielleicht aber auch eine Wiederentdeckung der wahren Welt. Der Schriftsteller und Bauer John Lewis Stempel schreibt scheinbar zeitlos, verträumt und poetisch, zitiert alte Gedichte, erfreut sich und uns mit kleinen und großen Details des Landlebens, tanzt im Karussell mit seinen Pferden und schert Schafe, um einer Nachbarin einen Gefallen zu tun.
Stempels kurze Kapitel in Wandern bei Nacht umfassen alle vier Jahreszeiten und verstecken ihre Gesellschaftskritik im Nebensatz. Besonderes Lob gebührt der Übersetzerin und Autorin Sofia Blind, die es geschafft hat, die verspielte Leichtigkeit des englischen Originals, Nightwalking, ebenso flüssig und poetisch ins Deutsche zu übertragen.
Das Zeichnung auf dem Nightwalking-Originalcover leuchtet in einem grell-türkisen Mondlicht.
Nachtwanderung ohne Bildschirmlicht und Lichtverschmutzung
Lewis-Stempel geht es nicht nur um die Nacht, sondern auch um die Dunkelheit beziehungsweise Zwielicht und natürliche Lichtverhältnisse. Er würde niemals, so schreibt er, eine Straßenlaterne vor der Haustür ertragen.
Ich bin es gewohnt. Ich mag die Lichter der Stadt, die Gemütlichkeit der Fenster, die kühle Urbanität der Clubs und Schaufenster, die Pflanzen und Tiere der Parks und Gärten. Aber ich mag auch die Dämmerung der Felder und die Dunkelheit der Wälder. Diese beiden Bilder habe ich selbst in der Nacht fotografiert: Nacht in der Stadt im Winter, Nacht im Sommer auf einem einsamen Zeltplatz auf Reisen.
Genießt ihr die Geräusche der Nacht, die Weite der See und das Gewimmel der Städte? Vielleicht bevorzugt ihr die spannende Story eines klassischen Krimis, am besten verfilmt zum Streamen im Internet?
Dank und Empfehlung
Das Buch Wandern bei Nacht war ein Geschenk zum Geburtstag. Der Hausmann und Über die See verdanke ich der Empfehlung des Bücher-Podcasts Zwei Seiten von Mona Ameziane und Christine Westermann, die beide kein Blatt vor den Mund nehmen. Ihre erneute Empfehlung ermunterte mich, dem Hausmann nach einer kritischen Erwähnung am Rande meiner Rezension von Vernon Subutex nun die Aufmerksamkeit zu schenken, die er wohl verdient hat.
Ich hoffe, dass dieser Artikel zum Lesen, Wandern und Entdecken anregt.